Jeden Morgen leide ich. Das Klingeln meines Weckers ist – wie Sie vielleicht denken könnten – allerdings nicht der Grund, zumindest meistens. Es ist auch nicht die Kälte, die mir nach dem morgendlichen Duschen entgegenströmt und mich regelmäßig zum Verzweifeln bringt, oder die Fahrt mit dem Rad zur Arbeit, häufig bei viel Regen und noch mehr Wind. Mein Leid reicht tiefer: Ich bin abhängig – von der Bahn!
Seit nunmehr sieben Monaten fahre ich jeden Tag zunächst mit dem Rad zum Osnabrücker Bahnhof, um dann in einem häufig verspäteten und überfüllten Regionalzug nach Münster zu tuckern (und natürlich wieder zurück). Wenn ich besonders großes Glück habe, fallen Züge auch mal unangekündigt aus oder fahren nur die Hälfte der Strecke. An Osnabrück oder Münster vorbeigefahren, ist aber noch keiner. Als gebürtige Wolfsburgerin ist das für mich eine äußerst erfreuliche Nachricht.
Doch genug gelästert. Die Bahn hatte es in den vergangenen Wochen sowieso schwer genug. Da muss man nicht noch nachtreten, auch wenn es an manchen Tagen leicht fällt. Stattdessen möchte ich Ihnen die denkwürdigsten Erlebnisse meines Pendleralltags vorstellen.
Städtekunde in der Bahn
Fast jeden Tag fahre ich zur selben Uhrzeit mit der Bahn. Fast jeden Tag sehe ich dieselben Gesichter. Fast jeden Tag verbringe ich meine Fahrt schweigend, vertieft in eine Zeitung oder ein Buch. Die Betonung liegt auf fast. Eines Tages, es regnete heftig, befreite mich ein älterer Mann aus meinem Trott. Er deutete auf den Sonnenaufgang, der mir in meinem morgendlichen Dämmerzustand nicht aufgefallen war. Seine Farbmischung aus einem blassen Violett gepaart mit einem leuchtenden Orangeton zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Der ältere Mann stellte sich als Albert, Jahrgang 1942, vor. Als er erfuhr, dass ich erst vor ein paar Wochen nach Osnabrück gezogen war, bot er mir an, mir die Geschichte der Stadt näherzubringen. Ich konnte nicht nein sagen und bin froh, dass ich es nicht getan habe.
„Sie dürfen mich nicht für einen Kriminellen halten“, begann er seine erste Geschichte. „Als Jugendlicher hatte ich nur eins im Kopf: Ich wollte die Mädels beeindrucken.“ Eines Sommers sei er daher ins Freibad eingebrochen. Der hohe Zaun sei für ihn kein Problem gewesen, der Malteser der Eigentümer schon. „Er hat mich laut bellend vom Grundstück vertrieben. Am Zaun zerriss ich mir dann noch die Hose. Ich war natürlich das Gespött der ganzen Schule“, erinnerte sich Albert zurück. Die Mädels konnte er erst einmal vergessen.
Auch bei seiner Ausbildung zum Anlagenführer in einem kleinen Osnabrücker Betrieb lief es zunächst nicht rund. Gleich in seiner ersten Woche schrottete er die wichtigste Maschine. Um nicht rauszufliegen, bestach er seinen Chef mit einer Flasche Champagner, die er von seinem Vater gestohlen hatte. „Ich musste zwar die nächsten Wochen unter den Wutausbrüchen meines Vaters leiden, doch meinen Chef konnte ich besänftigen. Wir wurden beste Freunde“, erzählte Albert mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Er blieb bis zu seiner Rente im Betrieb. Als er mir gerade davon berichten wollte, wie er seinem Chef beichten musste, dass er dessen Tochter geschwängert hatte, kamen wir in Münster an. Wir mussten Abschied nehmen. Seitdem habe ich Albert nicht mehr gesehen – vergessen habe ich ihn und seine amüsanten Geschichten allerdings nicht.
Das bockige Kind und der mitfühlende Rocker
In meinen sieben Monaten als Pendlerin habe ich so manche kuriose Begebenheit erlebt. Dazu gehört sicherlich das an expliziten Details nicht mangelnde Gespräch einer Rentnergruppe über ihre Erlebnisse als Swinger. Vergessen werde ich auch nicht den Tag, an dem ich die Hälfte der Fahrt in der Zugtoilette verbringen durfte, da die Bahn so überfüllt war, dass die Zusteigenden anders nicht in das Abteil gepasst hätten.
Am erinnerungswürdigsten war für mich allerdings das Aufeinandertreffen zweier Gruppen, die man in der freien Wildbahn sehr selten zusammen beobachten kann: zum einen eine Familie, bestehend aus einer jungen Mutter und ihren beiden kleinen Kindern, zum anderen eine Gruppe mit älteren Männern, die offensichtlich zu den Hells Angels gehörten. Kurz nachdem sich der Zug in Bewegung setzte, begann die etwa dreijährige Tochter der jungen Frau zu weinen. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen – jedoch ohne Erfolg. Schnell steigerte sich das Weinen zum Brüllen. Die Gruppe Hells Angels wurde auf das Kind aufmerksam. Sie schienen genervt und tuschelten missmutig.
Etwa zwei Minuten später ging einer der Männer auf die Familie zu. Er hatte lange Haare, ein ungepflegtes Äußeres und war offensichtlich betrunken. Ich befürchtete Schlimmes. Mit einem mehr als mürrischen Gesichtsausdruck kniete er sich neben das weinende Kind, seine Bierdose fest in der Hand haltend. Er redete, leicht nuschelnd, auf das kleine Mädchen ein: „Prinzessin, ich hatte heute einen wirklich furchtbaren Tag. Kannst du nicht mit dem Weinen aufhören?“ Über sein Gesicht huschte sogar ein Lächeln. Doch die etwa Dreijährige zeigte sich unbeeindruckt, der Rocker musste seine Taktik ändern. Er schaute dem Mädchen in die Augen, dann begann er, lauthals zu quengeln und weinen. Die Mutter und alle anderen Anwesenden waren geschockt, das dreijährige Mädchen auch. Zur Überraschung aller hatte der Hells Angel es geschafft: Das Mädchen beruhigte sich. Triumphierend kehrte er zu seinen Freunden zurück, die ihn als Held feierten. Wir waren baff.
Diese Erfahrung zählt mit Sicherheit zu den kuriosesten Ereignissen, die ich je erlebt habe. Aber mal schauen, was 2019 zu bieten hat. Die Bahn ist ja immer für die eine oder andere Überraschung gut.